Kategorie: Meinung

Corona: Zeit für Alternativen

Corona: Zeit für Alternativen

Als Gemeinschaft muss man aufeinander Rücksicht nehmen. Daran führt gerade in einer Krise wie der Corona-Pandemie kein Weg vorbei. Abstand zu halten, Maske zu tragen und sich regelmäßig die Hände zu desinfizieren, waren und sind eigentlich die Grundregeln des Zusammenlebens in gesundheitlich schwierigen Zeiten. Ein Blick nach Fernost zeigt, wie effektiv allein diese Maßnahmen sein können, wenn sich alle daranhalten.

Japan: geringe Inzidenzen bei einst niedriger Impfquote

In Japan liegt die Impfquote mittlerweile bei 77 Prozent, aber die Inzidenzen waren schon niedrig, als die Regierung noch über das Impfen nachdachte. Denn das Tragen von Masken und die Desinfikation wurde allgemein akzeptiert. Die Gesellschaft ist darauf angewiesen im Fall von Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Tsunami, dass alle zusammenhalten und Rücksicht nehmen. Das funktioniert offensichtlich auch in Zeiten eines gesundheitlichen Notstands: ganz ohne Impfpflicht. Bei uns ist das mit der Rücksicht und der Selbstbeschränkung so eine Sache. Diesem Verhalten mit noch mehr Regeln, Gesetzen und Pflichten beikommen zu wollen, ist aus meiner Sicht der falsche Weg.

Diskussion über die Endlichkeit des Lebens

Ich finde es gut, wenn über die Impfpflicht diskutiert wird. Ich fände es besser, wenn darüber offen (also unter Einbeziehungen aller Sichtweisen) und im größeren Rahmen gesprochen würde. Eine Impfpflicht in Krankenhäusern und Altenheimen wälzt das Problem mal wieder auf die Pflegekräfte und das medizinische Personal ab, ohne dass die Gesellschaft im Ganzen sich mit der Frage beschäftigen muss. Dabei liegt es an jedem Einzelnen auf seine Gesundheit zu achten. Das gilt mit Blick auf Rauchen, Trinken und fehlende Bewegung gleichermaßen (denn auch das hat gesundheitliche Konsequenzen, für die die Allgemeinheit aufkommen muss).

Überlastung des Gesundheitssystems nicht allein wegen Corona

Bisher haben wir es uns leisten können, eine ungesunde Lebensweise zu tolerieren und die Folgen einfach mit Hunderten von Milliarden Euro im Medizin- und Reha-Wesen aufzufangen. Denn man darf nicht vergessen, dass es dabei auch ums Geschäft geht. It’s just good business. So hat sich langsam der Glaube eingeschlichen, dass der Mensch zumindest in Deutschland ein Anrecht auf Gesundheit hat und das Gesundheitssystem bitte genau dafür zu sorgen habe.

Corona trifft noch immer vor allem ältere Menschen mit Vorerkrankungen

Von den bisherigen 100 Tausend Corona-Toten in Deutschland, von denen jedes einzelne Schicksal zu beklagen ist, sind mehr als 60 Prozent über 80 Jahre und mehr als 95 Prozent über 60 Jahre alt gewesen (Quelle RKI) – meist mit Vorerkrankungen. Vielleicht wären viele von ihnen bald an einer anderen Krankheit als Covid19 gestorben. Die Übersterblichkeit in Deutschland ist in nur in einigen Monaten seit dem Corona-Ausbruch etwas höher gewesen. Wie es den Menschen in den vielen Pflegeheimen geht oder ging, interessiert uns kaum. Daran hat sich auch nichts geändert, seitdem der Pflegenotstand fast täglich in den Nachrichten ist. Die Diskussion über ein menschwürdiges Leben im Alter und die Fähigkeit loslassen zu können, führen wir noch immer nicht.

Zeit für alternative Pläne und Herangehensweisen

Die Corona-Pandemie wütet jetzt seit fast zwei Jahren und aus meiner Sicht haben die Rezepte der Politik versagt. Zuerst waren es Kontaktbeschränkungen, dann das Impfen und jetzt die Impfpflicht, mit deren Hilfe alles wieder so wie früher werden soll. Vielleicht ist es Zeit, sich über ein anderes Verständnis Gedanken zu machen. Was wäre, wenn wir akzeptieren, dass der Mensch ein verletzliches Wesen ist, das gerade mit zunehmenden Alter nicht immer von unserer fortschrittlichen Medizin gerettet werden kann; dass Krankheiten, Pandemien zu unserem Lebensstil und zum Leben an sich gehören. Dann wäre es leichter, offen über die Triage zu sprechen, die wir ohnehin schon häufig genug anwenden. Ganz zu schweigen von unserer stillschweigenden Bereitschaft, mit unserem Handeln (Konsum, Klima, Gewinnstreben) Tausende von Menschen tagtäglich in den Tod zu schicken. Aber das geschieht ja für uns namenlos an weit genug entfernten Orten in der Welt und bleibt deshalb meist unberücksichtigt. Ist das nicht Grund genug, trotz oder wegen Corona innezuhalten und einmal grundsätzlich nachzudenken?

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Achtung Meinung

Achtung Meinung

Demokratie erfordert Diskussion

Eine Bundeskanzlerin, die in ihrem früheren Leben Naturwissenschaftlerin war, bringt gewisse Eigenschaften mit, die für die Analyse und die nüchterne Bewertung von Fakten von Vorteil sind. So hat Angela Merkel Deutschland einigermaßen glimpflich durch die erste Corona-Welle gesteuert. Jetzt nach einem dreiviertel Jahr der Krise und der rollenden zweiten Welle hilft die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Modellrechnungen und Kausalitäten, die das  komplexe Zusammenspiel der menschlichen Psyche außer Acht lassen, nicht weiter. Jetzt ist auch vielleicht sogar vor allem Empathie gefragt. Diese emotionale Fähigkeit aber fehlt aus meiner Sicht vielen der derzeit aktiven PolitikerInnen; genauso wie Freude an Unterhaltung, Ablenkung, Spaß und Kultur in ihren vielfältigen Ausprägungen, möchte man fast meinen. Anders ist es nicht zu verstehen, warum welche Branchen für den zweiten Lockdown light ausgewählt worden sind.

An-Hedonismus und fehlende Empathie

Ein Hygiene-Konzept für eine Disko oder ein Popkonzert zu erstellen, ist sicher nicht einfach, aber möglich, wie einige Wissenschaftler nachgewiesen haben. Auf Abstand bei den Zuschauenden einer Theateraufführung oder eines klassischen Konzerts zu achten, ist hingegen nicht kompliziert, weil die potenziellen Besucherinnen und Besucher still auf ihrem Platz sitzen und sogar eine Maske tragen könnten. Warum so eine Veranstaltung gefährlicher sein sollte, als mit der U-Bahn oder dem Bus in die Arbeit zu fahren, leuchtet mir nicht ein. Auch die Hotels und Gaststätten hatten mit viel Aufwand und Kosten Hygienekonzepte umgesetzt, die wissenschaftlichen Standards entsprechen und größtmögliche Sicherheit bieten. Warum das auf einmal nicht mehr gelten soll, ist nicht nachvollziehbar, es sei denn, man muss davon ausgehen, dass die PolitikerInnen wenig Freude an einem gemütlichen Beisammensein haben, sofern sie nicht ihre Stammtisch-Parolen dort an den Mann respektive Frau bringen können.

Recht auf Privatsphäre

Ich halte das Argument für stichhaltig, dass sich das soziale Leben ins Private verlagert, wenn die öffentlichen und gesellschaftlichen Räume dafür geschlossen werden. Im Privaten kann und darf es aber keine staatlichen Kontrollen geben, das schreibt schon das Grundgesetz vor. Der Staat greift ohnehin nicht erst seit der Pandemie immer tiefer in die Freiheitsrechte seiner Bürgerinnen und Bürger ein. Wenn einzelne Politiker aktuell eine Überprüfung der Wohnungen hinsichtlich der Einhaltung der Versammlungsverordnung fordern, empfinde ich das als einen Angriff auf unsere freiheitliche Grundordnung. Die vermeintlich einschränkende Bemerkung eines Ministerpräsidenten, man werde nicht im Privaten kontrollieren, aber die Polizei werde aktiv, wenn sie Hinweise aus der Bevölkerung erhalte, dass die Regeln nicht eingehalten werden, stimmt mich keineswegs zuversichtlicher.

Langfristige Strategie notwendig

Was ich grundsätzlich vermisse, ist die Diskussion über eine längerfristige Strategie im Umgang mit dem Sars-Cov2-Virus. Immerhin gibt es in der Wissenschaftsgemeinde mittlerweile unterschiedliche Ansätze, wie man der Pandemie und der Gefahr durch Covid19 begegnen soll. Macht es mehr Sinn, die Risikogruppe zu schützen oder allgemein die Verbreitung innerhalb der Bevölkerung zu verhindern? Es ist schade, dass sich die Politik bisher nicht getraut hat, andere Ansätze wie das in Schweden praktizierte Modell offen zu diskutieren. Das Parlament wäre dafür sicher ein geeigneter Ort. Unabhängig von der persönlichen Überzeugung der Regierenden gehört es zu ihrer Aufgabe, denen, die sie gewählt haben, zu vermitteln, wie die Pandemie in den Griff zu bekommen ist oder, wenn das nicht möglich ist, wie wir damit zu leben lernen können. Denn es ist ja nicht die erste und einzige Krankheit, die die Menschen mit dem Tode bedroht und nicht ‚ausgerottet‘ werden kann. Der Hinweis auf einen möglichen Impfstoff greift mir zu kurz. Erstens wissen wir nicht, ob einer der Impfstoffe in Erprobung die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen kann; zweitens wissen wir nicht, ob dadurch eine langfristige Immunisierung möglich ist oder ähnlich einer Grippeimpfung dieser relative Schutz regelmäßig wiederholt werden muss.

Leben lernen mit Sars-CoV2

Geld allein löst all diese Probleme nicht. Ganz im Gegenteil: die aufgenommenen Schulden fördern nur den Generationenkonflikt. Denn die, die diese Schulden einmal zurückzahlen müssen, sind genau diejenigen, die sich ihrer Vergnügungen, ihres sozialen Lebens aber auch ihrer Zukunftsaussichten durch die Beschränkungen im Rahmen des Lockdowns beraubt sehen.

Tägliches Entscheiden über Leben und Tod

Noch ein Wort zu dem Argument, dass dieser Lockdown light notwendig ist, weil wir die ärztliche Versorgung sonst nicht sicherstellen können. Das Gesundheitssystem in Deutschland hat seine Leistungsfähigkeit während der ersten Welle bewiesen. Die Schwachstelle liegt weniger in der Ausrüstung und Technik oder den fehlenden Mitteln, sondern bei der mangelnden Attraktivität der Pflegeberufe. Mit wohlfeilem Applaus und weiteren Regulierungen kann man daran kaum etwas ändern. Auch die Anhebung der Löhne ist zwar wichtig, erreicht aber oft die Mitarbeitenden nicht, da zumindest in der Altenpflege der Grad der gewerkschaftlichen Organisation und damit flächendeckender Tarifverträge gering ist. Auch hier bedarf es einer langfristigen Strategie. Was mich an dem Argument, es dürfe nicht an der Krankenhaustür über Leben und Tod entschieden werden, ein wenig stört, ist die Scheinheiligkeit, die ich dabei empfinde. Denn letztlich entscheiden wir mit unserem Handeln tagtäglich über Leben und Tod, nur bekommen wir es in der Regel nicht mit. Je nach dem in welchem Kontext oder ordnungspolitischen Rahmen ich mich bewege, kann ich meine Verantwortung gegenüber dem Leben bzw. Sterben von anderen ausblenden. Wir haben zwar ein deutlich besseres Krankenkassensystem als in vielen anderen Ländern, aber auch bei uns besteht eine Zwei-Klassen-Medizin, die für manchen Patienten der gesetzlichen Krankenkassen den Tod bedeuten kann, während ein ähnlich gelagerten Fall mit privater Absicherung durchaus noch behandelt vielleicht sogar geheilt wird. Wenn ich meinen Blick auf Deutschland fokussiere, obwohl wir uns ja meist als glühende Europäer geben, akzeptiere ich den Tod durch Covid19 bei unseren Nachbarn Frankreich, Tschechien oder in Spanien und Italien. Die komplexe Kausalitätskette der fehlenden Touristen in beliebten Reiseländern, an dessen Ende Hunger und Tod stehen dürften, will ich gar nicht erst aufdröseln. Aber in diesem Fall ist das Ereignis weit genug von uns weg, solange die Betroffenen nicht als Flüchtlinge ihren Weg nach Europa suchen.

Auch in der Krise lebt die Demokratie von Diskussion und unterschiedlichen Meinungen

Dieser kleine Aufriss zeigt, wie schwierig die Lage ist. Einfache Lösungen gibt es nicht, das ist mir klar, aber das enthebt einem nicht der Verantwortung genau darüber zu diskutieren, streiten und um die richtigen Antworten zu ringen.

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Reisen trotz Corona

Reisen trotz Corona

Meine Einstellung zum Thema „Reisen“ war bis zum Frühjahr dieses Jahres ambivalent. Nach der vorübergehenden Schließung der Grenzen (zum zweiten Mal nach der sogenannten Flüchtlingskrise) kann ich aber das Reisen über Grenzen hinweg uneingeschränkt begrüßen, auch wenn die Mobilität zur Umweltverschmutzung beiträgt. Es ist gerade innerhalb Europas so wichtig zu erleben, dass die oft zufällig und von Männern gemachten Grenzen nichts Unüberwindliches haben, dass das Leben auf der anderen Seite genauso schön oder noch schöner sein kann, dass egal in welcher Sprache jemand spricht, wir alle Menschen sind, und dass der Wunsch, einem Lebensgefühl nachzugehen, Energie und Zuversicht freisetzen kann.

Die Cinque Terre sind dafür ein gutes Beispiel. Vielleicht wegen der Corona-Krise sind es vor allem jüngere Menschen, die es dorthin zieht: Italiener ebenso wie Deutsche, Schweizer, Franzosen, Holländer, Dänen und Engländer. Sie alle wollen die Küstenlinie und die pittoresken Dörfer erkunden, im Meer schwimmen und die Wärme genießen. Die Internationaliät ist akzeptiert, gewollt und durch den wirtschaftlichen Nutzen auch sehr willkommen. Welchen Schaden das Corona-Virus angerichtet hat bei den Menschen, die in nahen oder fernen Ländern vom Tourismus leben, werden wir erst in ein paar Monaten in seinem ganzen Ausmaß feststellen können. Angesichts der kargen Monate kann man sich als Tourist im Moment an einer großen Zuvorkommenheit erfreuen – so erging es mir zumindest in La Spezia und den Cinque Terre.

Den Norden Italiens hat die Covid-19-Pandemie den veröffentlichten Zahlen zufolge am schlimmsten getroffen. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Statistiken aber immer nur einen Teil abbilden und die Einzelschicksale komplett außer Acht lassen. Angeblich sind viel mehr Menschen mit dem Virus in Berührung gekommen, ohne Symptome zu zeigen, als angenommen. Das würde die hohen Todeszahlen ebenfalls relativieren. In La Spezia gehören die Masken auch ein halbes Jahr danach noch immer zum Alltag. Aber man kann wieder einen Espresso trinken, am Strand liegen, im Restaurant essen oder am Hafen entlang bummeln. Dieses Lebensgeühl ist nicht nur für die Touristen anziehend sondern für die Einheimischen essentiell. Das quirrlige Gewusel setzt Energie frei, die zur Lebensfreude und Zuversicht der jungen Menschen beiträgt, die sich für ihre Reise genau dieses Ziel ausgesucht haben.

Ehrlicherweise muss man sagen, dass es mir in La Spezia und den Cinque Terre auch deshalb so gut gefallen hat, weil es zwar voll aber im Vergleich zu normalen Sommermonaten verhältnismäßig angenehm war, was die Touristendichte angeht. Die Kreuzfahrtschiffe sind noch in Zwangspause und so dümpelte lediglich ein allein von der Besatzung bevölkertes Schiff im Hafen anstatt der vielen Dampfer, die sonst für einen Tag ihre Heerscharen in die Innenstadt einfallen lassen. Viele Einwohner haben sich aber auf diese Kundschaft eingestellt und leben davon. In diesen Sommermonaten blieben viele Lokale deshalb halbleer trotz der jungen Besucher. Immerhin konnten so die geforderten Abstandregeln eingehalten werden.

Noch ein paar Gedanken zum Sars-CoV-2, das bekanntlich vor keinen Grenzen Halt macht und offensichtlich auch die geschlossenen Grenzen einer Insel wie Neuseeland im gekühlten Laderaum überwinden kann. Vielleicht wäre es an der Zeit, etwas mehr Gelassenheit im Umgang mit diesem Virus an den Tag zu legen.

Covid-19 ist nicht die Pest

Covid-19 mag bei manchen Menschen schlimmer verlaufen als eine Grippe, hat zum Glück aber nicht die Pandemie-Qualitäten wie die Pest. Die Fortschritte bei der Herstellung eines Impfstoffes sind deutlich (ob man Russland mit seiner Sputnik-2-Ankündigung nun glauben mag oder nicht) und unser Gesundheitssystem ist fern vom Zusammenbrechen. Schwieriger ist, dass trotz der versprochenen Testkapazitäten viele Menschen noch immer lange auf ihr Testergebnis warten müssen und damit wertvolle Zeit verloren geht, wenn es um die Verfolgung des Übetragungsweges geht. Auch die Gesundheitsämter haben längst nicht die personellen Kapapzitäten zur Verfügung, die nötig wären, um die vollmundigen Ankündigungen der Politik im wirklichen Leben umsetzen zu können.

Vollmundige Ankündigungen der Politik

Ganz zu schweigen von den sogenannten System-relevanten Personen an der Kasse oder in der Pflege, die weder Lohnerhöhungen noch sicherere Arbeitsplätze noch gesellschaftliche Anerkennung erfahren, nachdem die erste Welle abgeebbt ist. Auch hier hat die Politik zwar eine Menge Maßnahmen in Aussicht und sicher auch einige Regeln auf-gestellt, die in der Praxis aber kaum Wirkung zeigen. Die Schere in der Gesellschaft zwischen arm und reich geht weiter auseinander. Schlimmer noch: die Kluft zwischen den politischen Korrektheitsvorstellung, die sich zum Teil im Gesetzgebungsprozess niederschlagen, und der Lebenswirklichkeit der Menschen wird immer tiefer.

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Herdentrieb im Kleinen und Großen

Herdentrieb im Kleinen und Großen

Maßnahmen zu Covid19 – eine Glaubensfrage?

Ich halte nichts von Verschwörungstheorien, auch wenn sich die aktuelle Situation rund um das Corona-Virus für deren Entwicklung hervorragend eignet. Aber der politische Umgang mit der Krise und die mannigfaltigen Informationen, die nur selektiv wahrgenommen werden (können), animieren zum Gedanken-Treiben-Lassen. Es ist interessant, dass das Prinzip des Herdentriebs nicht nur auf Menschen, sondern offensichtlich auch auf Staaten angewandt werden kann. Während wir Klopapier, Wein oder Kondome horteten, überboten sich die wiedererwachten Nationalstaaten mit ihren Ausgangsbeschränkungen und Verboten.

Wiedererwachte Nationalstaaten

Einer machte den Anfang (ich glaube, es war der österreichische Kanzler Kurz) und wie die Dominosteine fielen die anderen nacheinander um und verpassten ihrem Land eine ähnliche Abschottung und (Teil-)Schließung. Die, die sich wie die schwedische oder zu Beginn die niederländische Regierung dagegenstemmten, wurden argwöhnisch beäugt, und je weiter die Krise fortschritt, desto größer wurde der mediale und (im Sinn einer Staatengemeinschaft) öffentliche Druck, den Sonderweg zu beenden beziehungsweise als Irrweg zu verteufeln.

Frage der Alternative

Ich will damit nicht sagen, dass die Einschränkung des sozialen Lebens z.B. in Italien falsch gewesen ist. Angesichts der Situation des Gesundheitssystems dort musste gehandelt werden. Die ersten Erfolge im Kampf gegen die Pandemie lassen vermuten, dass die Maßnahmen etwas gebracht haben. Ob es auch anders gegangen wäre, wird sich – wenn überhaupt – erst später herausstellen.

Wie eine Herde bestärken sich die Nationalstaaten weltweit in ihrer Stampede. Nur durch äußere Faktoren kann so ein Galopp in seiner Richtung geändert oder zum Stehen gebracht werden. Aber die äußeren Faktoren sind abhängig vom Blickwinkel und Schwerpunkt, den man setzt. Wenn man einmal den Weg der Beschränkungen eingeschlagen hat, ist es schwer bis unmöglich, die Richtung zu wechseln. Denn dann müsste man eingestehen, dass die eingeforderten und von der Bevölkerung auch erbrachten Entbehrungen umsonst waren.

Öffnungsdiskussionsorgien sind nötig

In der Konsequenz sind die Regierungen auch wenig geneigt, zum jetzigen Zeitpunkt Diskussionen über Alternativen zuzulassen. So kann ich mir zumindest die merkwürdige Haltung der deutschen Bundeskanzlerin hinsichtlich der von ihr titulierten „Öffnungsdiskussionsorgien“ erklären. Da alle Parteien im Bundestag – warum auch immer – sich hinter den Corona-Krisen-Kurs der Regierung gestellt haben, kommt im Parlament keine echte Debatte über andere Krisen-Modelle zustande, wird medial kein ehrlicher Vergleich mit Ländern wie Schweden und ihrem Krisenmanagement gezogen. Da passt es ins Bild, dass über die KoCo2019-Studie in München seit dem Beginn nichts mehr zu lesen ist.

KoCo2019-Studie in München

Am 5. April startete die Befragung von 3000 Haushalten in den Münchner Stadtteilen, um unter anderem die Dunkelziffer der mit SARS-CoV-2 infizierten Menschen zu ermitteln. Auch wenn die Studie als Langzeitprojekt angelegt und angekündigt worden war (die Befragungen sollen in einem Jahr mehrfach wiederholt werden), sollten erste Erkenntnisse bereits nach zwei bis drei Wochen vorliegen. In der Pressemitteilung des verantwortlichen Tropeninstituts der LMU heißt es:

Die Ergebnisse der Studie werden regelmäßig in einem Beratungsgremium, bestehend aus dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, dem Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, dem Referat für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München, der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Helmholtz Zentrum München diskutiert.

Pressemitteilung Tropeninstitut der LMU Stand 24.04.2020

Man ist versucht hinzuzufügen: und je nach Ergebnis der Öffentlichkeit mitgeteilt oder auch nicht. Denn, wenn erste Ergebnisse nicht ins Bild passen, ist es besser zu warten, um den eingeschlagenen Weg nicht in Frage zu stellen.

Die Angst vor einer falschen Entscheidung und der dadurch entfesselte Herdentrieb ist nachvollziehbar. Es geht nicht nur um Menschenleben, sondern auch um Millionen von Existenzen, die vernichtet oder zumindest ihrer Grundlage beraubt worden sind oder noch werden. Da will man als Politikerin oder Politiker keinen Fehler machen und schon gar keinen Fehler zugeben. Und von Fehlern zu sprechen, dafür ist es in der Tat noch viel zu früh.

Einordnung in 50 Jahren möglich

Was man hätte anders tun können, wird sich erst nach 50 Jahren herausstellen, wenn die HistorikerInnen all die Langzeitfolgen untersucht und diskutiert haben. Mich stört, die bewusste oder durch den Herdentrieb unbewusst verursachte Einengung der Perspektive verbunden mit dem Ausblenden von anderen Möglichkeiten und Hinweisen. Noch einmal: die getroffenen Maßnahmen haben für Deutschland ihre Wirksamkeit bewiesen: viele Intensivbetten sind leer, die Krankenhäuser auf einmal nicht mehr voll ausgelastet und die Rehabilitationskliniken müssen wie viele andere Unternehmen große Einkommensverluste verkraften und fordern staatliche Unterstützung.

Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre

Auch hier gilt das Herdenprinzip in Kombination mit der Logik der Pendelbewegung. Viele erinnern sich an die im Nachhinein als kontraproduktiv ausgewiesenen Maßnahmen zur Behebung der Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren. Deshalb versucht man dieses Mal der selbst herbeigeführten, weltweiten Wirtschaftskrise mit großen Hilfspaketen zu begegnen. Am Ende muss auch diese der Steuerzahlende begleichen. Wieder überbieten sich die erwachten Nationalstaaten mit ihren Maßnahmen, und es gelingt kaum ein abgestimmtes Vorgehen in einem multilateralen Organismus wie der EU zu vereinbaren. In 50 Jahren werden wir mehr wissen und uns gegebenenfalls wundern, warum man damals (heute) nur so kurzsichtig war.

Der richtige Umgang mit den Zahlen

Interessant ist, dass in der Krise die Macht der Zahlen noch einmal gewachsen ist. Dabei ist eine Null oder Eins nichts ohne den Zusammenhang. Jedes Medium präsentiert den neusten Stand der Infizierten und der Toten. Der monoton vorgetragenen Beipackzettel zu den Zahlen wird ausgeblendet, weil er ohnehin nur Verwirrung stiftet. Welche Zahl ist jetzt noch einmal entscheidend? Die Fallzahl oder die Reproduktionszahl? Und was ist mit der Übersterblichkeitsrate? Jeden Tag werden die Todeszahlen „in Verbindung mit Covid19“ – wie es mittlerweile heißt – vorgetragen, aber nicht eingeordnet. Denn wer weiß schon, wie viele Menschen täglich in Deutschland sterben, und ob die Covid19-Toten dazugezählt werden müssen oder bereits ein Teil davon sind.

Wie hoch ist die Sterblichkeit wirklich

Vielleicht ist die Gesamtzahl der Toten gar nicht viel höher als in den Monaten vor der Krise. Für Deutschland scheint das zumindest der Fall zu sein. Normalerweise sterben hierzulande auf Grund verschiedener Ursachen täglich rund 2.500 Menschen. Im März sind in NRW die täglichen Todeszahlen trotz des Corona-Ausbruchs in Heinsberg nicht angestiegen. Angeblich zeichnet sich auch für den April keine deutliche Erhöhung ab. Es könnte sein, dass viele der Menschen, die an Covid19 gestorben sind, unter normalen Umständen an einer anderen Krankheit gestorben wären. Vielleicht führen die Ausgangsbeschränkungen zu weniger Verkehrstoten oder tödlichen Arbeitsunfällen. All dies und noch vieles mehr muss bei der Interpretation von Statistiken berücksichtigt werden.

Die Macht der WissenschaftlerInnen

Dass uns noch viele wesentliche Daten fehlen, räumen auch die WissenschaftlerInnen ein, die (un)freiwillig einen Teil der Macht in diesem Land übernommen haben. Und das ist ein weiteres Problem. Denn die gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter repräsentieren zumindest ein breiteres Bild der Bevölkerung und haben verschiedene Interessen wie Sichtweisen. Die Epidemiologen und Virologen haben als Spezialisten naheliegenderweise den Fokus auf ihrem Fachgebiet. Die Politik hat die zugegebenermaßen schwierige Aufgabe, den Fokus zu öffnen und dabei nicht nur auf die effektivsten Lobby-Vertretenden zu hören. Denn Kinder oder Opfer von häuslicher Gewalt haben keine Lobbyisten in unmittelbarer Nähe zu den Schaltstellen der Macht.

Kommen wir noch einmal zurück zur Sterblichkeitsrate. Die kann nur seriös bestimmt werden, wenn ich die „wahre Zahl“ der Infizierten und nicht nur der positiv Getesteten kenne. Deshalb führt das Tropeninstitut der LMU ja auch die Studie in München durch. Die Standford-University in den USA hat sich ebenfalls bemüht, die tatsächliche Zahl der Infizierten zu bestimmen und über Facebook 3300 Teilnehmende im Landkreis Santa Clara in Kalifornien rekrutiert. Im Ergebnis der Untersuchung kamen die Wissenschaftler auf eine Sterblichkeitsrate von 0,12 bis 0,2 Prozent durch Covid19, was der einer Influenza-Welle entspräche.

Eine Studie für jeden Zweck

Wie bei vielen Studien, die unter Zeitdruck erstellt werden müssen, sind auch bei der Standford-Studie nicht alle wissenschaftlichen Gütekriterien eingehalten worden. Aber da das Ergebnis nicht zu den vom Herdentrieb ausgelösten Maßnahmen passt, wird dieses Manko besonders betont. Und damit wird der Umgang mit der Corona-Krise zu einer Glaubensfrage, die wir bewusst als solche akzeptieren sollten.

Bitte vergessen Sie die gerade in Glaubensfragen so wichtige Toleranz gegenüber Andersgläubigen nicht.

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